Beiträge von: Jean-Christophe Ammann, Samuel Beckett, Walter Benjamin, Diedrich Diederichsen, On Kawara, Joseph Kosuth, Lousie Lawler, Werner Lippert, Glenn O’Brien, Richard Prince, Wilhelm Schürmann, Peter Sloterdijk, Noemi Smolik
Vorwort
Editorial: 1990!
„Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber es muß ständig anders werden, damit es besser wird." (G.E. Lessing)
Willkommen im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts; willkommen im letzten Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Es scheint, als läge eine aufregende Dekade vor uns.
Eine Mauer ist gefallen. Dies ist ein Ereignis, an dem ein Jahr-Buch, wenn es denn diesen Anspruch ernst nimmt, nicht vorbeisehen und vorbeigehen kann – Noemi Smoliks Beitrag zu diesem Jahresring ist eine Ohrfeige für all jene nunmehr ost-gläubigen Pilger, die neues Heil für die vermeintlich erschöpfte Westkunst im endlich „offenen" Osten suchen oder die, im Hinblick auf die kommende documenta, Expeditionen in den Osten einklagen; Noemi Smoliks Beitrag ist historisch-analytisch, doch wer zwischen den Zeilen liest, sieht die Kritik an der gegenwärtigen Praxis und Euphorie.
Eine Mauer, die Mauer, die Inkarnation der Mauer und aller sozialen, politischen, kulturellen Implikation dieses Bauwerks, ist gefallen; damit scheint – nicht nur für uns Deutsche, diese und jene – ein Teil der Vergangenheit entlassen, damit wird Platz für einen neuen Blick nach vorne.
Dies scheint für die Neunziger eine sich abzeichnende, generelle Tendenz zu werden (was zu hoffen bliebe!). Es zeigen sich globalere Visionen als je zuvor, Begriffe wie Rüstung, Umweltzerstörung verblassen zugunsten ihrer positiven Gegenbegriffe. Unser Weltbild ist (im Theoretischen) radikalen Änderungen unterworfen; was aufscheint, gibt neuen Mut, geeignete Modelle für die Interpretation der Wirklichkeit der nächsten Jahre zu bekommen: von der Chaos-Theorie bis zum Radikalen Konstruktivismus ist die Virulenz der Diskussion unübersehbar.
Ähnlich virulent ist die Diskussion in der Kunst. Die Modelle der Referentialität und (Re-)Präsentation der Vergangenheit werden ersetzt durch eine neue, fließende Begrifflichkeit.
Angeregt durch Joseph Kosuths Ausstellung The Play oft he Unsayable, die 1989 in Wien begann und 1990 in Brüssel endete, wird die Frage nach dem, was Kunst darstellt, was sie ausstellt, wie sie darstellbar und ausstellbar ist, zum zentralen Thema dieses Jahrbuchs.
So steht auch Kosuths Beitrag für den Katalog dieser Ausstellung, der inzwischen vergriffen ist, programmatisch in diesem Jahresring; angelehnt an die Wittgensteinschen Begriffe der „Familienähnlichkeit" und des „Spiels" demonstriert Kosuth sein Kunstverständnis und sein Verständnis von Kunst als Teil eines allgemeineren kulturellen Umfeldes, innerhalb dessen sich das, was wir als Bedeutung akzeptieren, erst herausbildet. Sein Beitrag spiegelt das Layout der Ausstellung in Wien und Brüssel wieder.
Dem Thema, wo und wie die Kunst ihre Bedeutung erlangt, nähern sich zwei weitere Künstler: Michael Krebber im Gespräch mit einem Kunstkritiker- mit Diedrich Diederichsen. In seinen Mißverständnissen, Gedankenflüchten und Zirkelschlüssen spiegelt dieses Gespräch viel wider vom Ringen des Künstlers um die Schlüssigkeit seiner Arbeit.
Stephen Prina im Gespräch mit einem Sammler – mit Wilhelm Schürmann. In einem Projekt für den Sammler, einem Gästebuch, thematisiert Prina nicht nur das Wesen seiner eigenen Arbeit, sondern das, was das Verhältnis von Künstler und Sammler, von Kunst und Betrachter ausmacht, und auch, wie Bedeutungs-Transfer und Meinungs-Bildung die Wirkkraft eines Kunstwerkes mitdefinieren.
Im Ausstellen konkretisiert sich die Entfaltung von Kunst, ihre essentielle Wirksamkeit im Augenblick des Wahrgenommenwerdens – Museums-Leute beschäftigen sich in diesem Jahresring mit der Problematik: Jean-Christophe Ammann, Direktor des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt, und Wim Beeren, Direktor des Stedelijk Museums in Amsterdam, tauschen in einem Gespräch ihre kontroversen Gedanken vor dem Hintergrund ihrer eigenen Museums- und Ausstellungs-Praxis aus.
Aus dem Inneren der philosophischen Betrachtung berichtet Peter Sloterdijk; sein Beitrag beschließt den Kreis des Nachdenkens über das Ausstellbare und die Ausstellbarkeit: „Es gibt für uns wohl kein wirkliches Draußen. Was uns verbleibt, ist ein Platz auf der Schwelle zwischen innen und außen, zwischen dem Museum und seinem Gegenteil, und nur auf ihr, zurückschauend auf die aufgegangene und ausgestellte Welt, und vorausblinzelnd in ein allesermöglichendes Nichts, erkennen wir uns als Einwohner des Unausstellbaren."
Hier schließt sich eine Diskussion, die – zumindest zwischen den Deckeln dieses Bandes – mit Joseph Kosuth und dem Spiel des Unsagbaren beginnt und mit einer Betrachtung endet, die jene Diagnosen stützt, die besagen, das Verschwinden der Kunst und die Ästhetisierung der Wirklichkeit seien zwei Seiten des gleichen unaufhaltsamen historischen Prozesses.
Das wirklich „Schöne" daran, ein Gast-Herausgeber zu sein, ist, daß man, wie jene Figur bei Jean Paul, die sich die Bücher, die sie lesen möchte, aber (aus Armut) nicht kaufen kann, selber schreibt, daß man, wie jener ideelle Schriftsteller bei Walter Benjamin, der Bücher schreibt, weil die Bücher, die es zu kaufen gibt, ihm nicht gefallen, daß man also sich einen Jahresring so zusammenstellen kann, wie man ihn gerne kaufen möchte.
So habe ich das, was ich in der Historie des Jahresrings so schätzte, nämlich die Verknüpfung der Kunst mit der Literatur, weiter fortgesetzt: Glenn O’Brien, ehemaliger Mit-Herausgeber des von Andy Warhol ins Leben gerufenen Interview-Magazins, hat einen Essay über die Kunst-Anzeige geschrieben, der mehr ein Poem als ein Essay ist; um den Reiz der Sprache zu erhalten, finden Sie neben der Übersetzung die Original-Version. Kunst-Anzeigen? – auch sie, wie die Kunstzeitschriften, in denen sie erscheinen, sind ein Teil jenes umfassenden Ausstellens, Vorzeigens, Kommunizierens von und über Kunst.
In Samuel Becketts Das letzte Band kramt ein neunundsechzigjähriger Schriftsteller aus seinem Tonbandarchiv, in dem er sein Leben akustisch dokumentiert, jenes Band hervor, das er vor einem Lebensalter, nämlich mit neununddreißig besprochen hat. Heute wie damals: Inventur, eine Verschachtelung Von Lebensaltern; Gegenwart als Kommentar von Vergangenheit – wie bei On Kawara, der dieses Stück „illustriert" hat – mit seinen Datepaintings, eines aus jedem Jahr, seit er Datepaintings malt. Auch bei ihm verschachteln sich Gegenwart und Vergangenheit, meine Biographie, mit deren Hilfe ich mich seinen Datepaintings nähere, und seine Biographie, die zwangsläufig in diesen Bildern steckt.
In Walter Benjamins Ich packe meine Bibliothek aus finden Sie den autobiographischen Text des jungen mittellosen Ästhetikstudenten Benjamin über den Objektfetischismus des Sammlers und über das Erfahren-werden-wollen des Sammel-Objektes. Eine selbstironische Betrachtung darüber, wie „schrullig alles aus dem Blickwinkel eines echten Sammlers ist", aber auch vom Übergang der eigenen Identität auf die gesammelten Objekte, denn der Sammler, „er selber ist es, der in ihnen wohnt" – genau das gelingt auch Louise Lawler in ihrem kongenialen Beitrag zu Benjamins Essay; sie bezieht den Kunstliebhaber mit ein in die Kritik seines eigenen Geschmacks.
Richard Prince schließlich, zeitgenössischer amerikanischer Künstler, nähert sich dem gleichen Thema, nämlich der eigenen Bibliothek, aus dem Blickwinkel von Obsession, Phantasie und Suche. Die Beiträge von Joseph Kosuth, On Kawara, Louise Lawler‚ Richard Prince, die Gespräche mit Michael Krebber und Stephen Prina, und schließlich das Cover von Barbara Kruger machen den Jahresring zu dem, was sein Untertitel sagt: Zu einem Jahrbuch für moderne Kunst!
Der Jahresring 37: Buy it! It will change your life. Hier haben Sie einen „Sondereingang" in die Kultur der neunziger Jahre.